artikel -einzeln in html (252)
MELINA KEROU wirft einen Blick auf den von der GUE/NGL, der linken Fraktion im Europaparlament, veröffentlichten »Grünen und Sozialen New Deal für Europa«. Der Plan beharrt darauf, dass Klimaschutz und soziale wie wirtschaftliche Transformation Hand in Hand gehen müssen, soll eine Chance auf Erfolg bestehen.
CO2-Reduktion im Energiesektor
Durch den Vorschlag eines steileren Ziels in Form einer 70%igen Emissionsreduktion bis 2030 und einer gesetzlichen Bindung von Kohlendioxidneutralität an negative Emissionen bis 2050 kommt der Plan schnell zur Sache: der Forderung, alle Energiebereiche in öffentliches Eigentum zu überführen und die Bürger*innen an einer ›Klimaregierung‹ zu beteiligen. Es soll beim Übergang zu einem vollständig auf erneuerbaren Energien fußenden Energiesystem nicht mehr »Wachstum« und Profite für die Eliten der Wirtschaft generiert werden, während für die Arbeiter*innenklasse nur die Misere übrigbleibt. Es soll ein »gerechter Übergang« stattfinden, der dem Schutz der Natur einerseits, den Rechten und Bedürfnissen der Menschen andererseits Vorrang einräumt. Daraus ergibt sich alles Übrige: leistbare und verfügbare erneuerbare Energie mit staatlicher Preisregulierung für alle, kostenloser öffentlicher Verkehr, die Erfüllung verbindlicher Emissionsziele, nachhaltige Arbeitsplätze, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen, öffentliche Investitionen in neuartige und effizientere erneuerbare Energie, Kohlendioxidabscheidung und Technologien zur Müllverwertung.
Unternehmen vs. Klima
Die Hauptfeinde des gerechten Übergangs sind jene 20 Unternehmen, die fossile Brennstoffe erzeugen und für einen CO2-Ausstoß im Wert von fast 480 Milliarden Tonnen, umgerechnet einem Drittel aller Kohlendioxid-Emissionen seit 1965, verantwortlich sind. Dazu kommen die fünf größten fleisch- und milchproduzierenden Unternehmen, die zusammen die jährlichen Treibhausgas (THG)-Emissionen von Exxon, Shell oder BP übertreffen und die Giganten der agrochemischen Industrie, wie z. B. Bayer, die stickstoffhaltige Dünger und Spritzmittel produzieren und für den Großteil des in der Landwirtschaft anfallenden Distickstoffmonoxids (N2O) verantwortlich sind.
Der jedem Vorschlag für ein Klimaschutzgesetz zugrundeliegende Schlüssel besteht in der »Zähmung« dieser Industriegiganten, deren Bruttogewinne bei weitem das EU-Budget übertreffen, das für Klimaschutz vorgesehen ist. Die fünf größten börsennotierten Unternehmen (BP, Chevron, ExxonMobil, Shell, Total) geben jährlich 200 Millionen Dollar für Lobbying aus, um Klimaschutzpolitik zu verzögern oder offen zu blockieren. Dieser politische Hebel hat ihnen bisher ermöglicht, ihr ›Business as usual‹ fortzusetzen und sich enorme Summen via Steuerflucht zu ersparen. Gleichzeitig wandten sie nur magere Anteile an ihren Gewinnen für Straf- und Kompensationszahlungen aufgrund des Verursacherprinzips und für den äußerst problematischen Emissionshandel, und noch geringere für die Forschung im Bereich erneuerbarer Energien auf. Die Wiederaneignung des Energiesektors, eine der lukrativsten Quellen kapitalistischen Wachstums, kann deshalb nicht ohne die Rücknahme der neoliberalen Politiken, Regulierungen und Verträge erfolgen, die die Grundlage des Vorgehens der EU bilden. Bezeichnenderweise bestand eine der Forderungen der (aus Institutionen wie der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds bestehenden) Troika gegenüber den von Austeritätspolitik und Krisen geschüttelten Ländern wie Griechenland in der Deregulierung und Privatisierung der staatlichen Wasser- und Energiesektoren. Darin besteht einer der bedeutendsten Kämpfe, mit denen die Linke konfrontiert ist.
Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion neu denken
Ein zweites, den gesamten Grünen und Sozialen New Deal für Europa der GUE/NGL ebenso wie den Grünen EU-Deal durchziehendes Thema ist die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung der Lebensmittelproduktion. Die von der EU vorgeschlagene »Vom-Erzeuger zum-Verbraucher«-Strategie zielt darauf ab, die Landwirtschaft, den Fischfang und die angeschlossenen Distributionsketten in Richtung Nachhaltigkeit umzugestalten, während gleichzeitig der Lebensunterhalt von Bauern und Bäuerinnen und Fischer*innen gesichert ist.
Die damit verknüpften Probleme sind zahlreich und komplex: Die industrialisierte Landwirtschaft ist aufgrund von Überdüngung mit Stickstoffdüngern, einem Prozess, der auch die nitratbedingte Verunreinigung des Grundwassers verursacht, für 75 Prozent der von Menschen erzeugten Distickstoffoxid (N2O)-Emissionen verantwortlich, eines Treibhausgases mit einem um ein 300-faches höheren Erderwärmungspotenzial als CO2. Ein Großteil der Feldfrüchte wird zur Verfütterung an Tiere angebaut, um unsere zumeist auf Fleischkonsum abgestellte Ernährung aufrechtzuerhalten, was wiederum für 25 Prozent der menschengemachten Methanemissionen durch Rinder verantwortlich ist. Zusätzlich dazu setzt der veränderte Gebrauch des Bodens weg von Waldnutzung hin zu landwirtschaftlicher oder Weidenutzung Kohlenstoff aus der Erde frei.
Umstellung der Eiweißversorgung
Die Förderung organischer, kleinflächiger Landwirtschaft und die Sorge um das Wohlergehen der Tiere sind löblich. Der von der GUE/NGL vorgelegte Plan berührt ein weiteres heikles Thema: Wie kann ein Wandel in der Eiweißversorgung (»Proteine Transition«) herbeigeführt werden? Die weltweite Bevorzugung einer an tierischem Eiweiß reichen Ernährung, in Kombination mit der Bevölkerungswachstumsrate, ist nicht nachhaltig. Daher wird die Förderung einer gesunden Ernährung, die wenig tierisches Eiweiß enthält und aus leistbaren, lokal erzeugten Lebensmitteln besteht, die den transportbedingten CO2-Fußabdruck möglichst vermeiden und ohne die exzessive Verwendung von Kunstdüngern und Spritzmitteln erzeugt werden, eine ebenso große Herausforderung für die kommenden Jahre darstellen wie die Lebensmittelüberproduktion und -konsumtion in der westlichen Welt. Wie zu erwarten, sind unsere primären Gegner diejenigen, die die Lebensmittelproduktion kontrollieren: die fleisch- und milchproduzierende Industrie, die Giganten der Agrochemie, die für die Lebensmitteldistribution zuständigen Monopole. Angesichts des Scheiterns der jüngsten europaweiten Kampagnen zur Regulierung der auf Glyphosat basierten Unkrautvernichtungsmittel von Monsanto (jetzt im Besitz von Bayer) wird diese Umstellung alles andere als leicht werden.
Bodenschutz
Der Plan der GUE/NGL schlägt eine Rahmenrichtlinie zum Schutz der Böden vor. Bodenerosion als Folge von durch den Klimawandel bedingte unregelmäßige Niederschläge und Temperaturmuster verringert ebenso wie die Änderung der Bodennutzung infolge intensivierter Landwirtschaft und der Stadterweiterung ins Umland die Kapazität des Bodens, als Kohlendioxidsenke zu fungieren, d. h. CO2 zu binden. Die Abnutzung von bereits landwirtschaftlich genutztem Ackerland führt zu niedrigeren Ernteerträgen, wodurch wiederum mehr Dünger eingesetzt werden muss, um die Produktionsziele zu erreichen.
Die Neudefinition von Landwirtschaft als »Versorgung des Ökosystems«
Eine Umstellung auf organische Landwirtschaft mit nachhaltigen Praktiken wird zu verringerten Ernteerträgen führen, wenngleich begleitet von einer Verbesserung der Lebensmittelqualität. Einer Studie zufolge, die für England und Wales ein Modell-Szenario erstellt hat, ist im Falle einer Umstellung mit einer Verringerung der Ernteerträge um 40 Prozent und mit einer Reduktion der Emissionen um 20 Prozent zu rechnen. Das gefährdet das bäuerliche Einkommen, weshalb die Rolle der Bauern und Bäuerinnen neu bestimmt werden muss, die weniger als Lebensmittelproduzent* innen denn als »Dienstleister*innen am Ökosystem« gesehen werden müssen, deren Aufgabe etwa in der Wahrung der Biodiversität, der Anwendung von Techniken der Kohlendioxidbindung und der Bewahrung und Verbesserung der Boden- und Wasserqualität besteht, wofür sie von der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) belohnt werden sollen. Dafür ist eine radikale Neuorientierung der GAP notwendig, weg von den extensiven und destruktiven monokulturellen Praxen der Vergangenheit, von einem problematischen Förderungssystem und der Begünstigung der Konzentration von Ackerland in den Händen von Konzernen und regionalen Monopolen.
Die globalen Folgen berücksichtigen
Der abschließende Punkt des GUE/NGL-Plans sieht eine radikale Veränderung der internationalen Rolle Europas vor. Weg von einem Manager von Freihandelsabkommen, die eine Zunahme von Exporten und steigendes Wachstum zum Ziel haben, und hin zu einem Garanten für Menschenrechte und Wegbereiter eines weltweiten ›Grünen und Sozial Gerechten Wandels‹. In erster Linie umfasst das den Rückzug aus destruktiven Projekten auf der ganzen Welt, etwas, was der EU derzeit nicht möglich scheint – siehe das jüngste Scheitern von Bestrebungen, die Investitionen von Siemens in die australische Kohlebergbauinfrastruktur zu verhindern. Der Ruf nach fairen und gerechten internationalen Handelsbeziehungen, die Klima- und soziale Ziele berücksichtigen, erfordert ein Abgehen von Vorstellungen des »unbegrenzten Wachstums«, wie sie in den EU-Gründungsverträgen festgeschrieben sind.
Schließlich sind die kühnsten Forderungen jene nach Schaffung des Status des »Klimaflüchtlings« und des internationalen Verbrechens des Ökozids, die lang erwartete Anerkennung einer schrecklichen Wirklichkeit, die schon längst menschliche Migrationsmuster hervorruft und die Welt, die wir kennen, verändert, wobei die Verantwortung für Verbrechen gegen die Natur in aller Deutlichkeit dem einzigen, sei es auch noch so verdeckten Verursacher zugeschrieben wird, dem Kapitalismus.
Melina Kerou ist Senior Scientist an der Universität Wien, Fakultät für Lebenswissenschaften, Department für Ökogenomik und Systembiologie.
Warum sollte abseits des Plattform-Kapitalismus nicht auch etwas Plattform-Sozialismus möglich sein? Digitale Plattformen des 21. Jahrhunderts könnten dazu dienen, eine Selbstverwaltung auf der Höhe der Zeit umzusetzen. Große Körperschaften wie Krankenkassen, ORF oder Unis ließen sich durch alle Teilhabenden autonom selbst regieren.
Von HANS CHRISTIAN VOIGT
Unsere Zeit kennt den Begriff des Plattform-Kapitalismus. Seit Jahren existieren Begriff und Konzept eines Plattform-Kooperatismus. Da wäre es naheliegend, dass ein Begriff des Plattform-Sozialismus Ausgangspunkt von Debatten wäre. Es gibt ihn nicht. Kein Ansatz, keine Debatte, nicht einmal Neugier. Wieso? Hier geht es um die Skizze, was wir unter Plattform-Sozialismus diskutieren könnten.
AirBnB, Alibaba, Amazon … bis Zalando: Die ungeheure Organisationsleistung großer Unternehmen steht heute außer Zweifel. Das gilt auch für eine prekäre Ausnahme im Venture-kapitalisierten Plattform-Kapitalismus wie Wikipedia. All den Plattform-Unternehmen ist das Internet die Plattform, auf der ihre disruptiven Geschäftsmodelle aufbauen. Die Realität der herrschenden Plattformen enthält freilich eine Anklage: Wieso so turbokapitalistisch?
An das Unbehagen sollte die Aufforderung geknüpft werden, das Produktions- und Distributionsmittel Plattform anders zu denken als in der herrschenden, zu Gig-Economy und Monopolisierung führenden Logik. Wieso nicht etwas mehr als nur alternativen Kooperatismus in der Nische denken. Wieso nicht plattform-sozialistische Organisation von Arbeit, von Produktion, von Dienstleistung durch alle Teilhabenden wagen?
Selbstverwaltung und Resilienz
Vor über hundert Jahren schienen Rätesysteme denkbarer als heute. Selbstverwaltung von Krankenkassen war unmittelbar vorstellbar, ohne Umweg über Repräsentation via Kammern und Gewerkschaft. Selbstverwaltung ist für die Sozialversicherung immerhin in der österreichischen Bundesverfassung gesetzlich verankert.
Die Umsetzung seit ›45 blieb freilich vom Bild tatsächlicher Mitsprache und Mitbestimmung dermaßen entfernt, dass ein Bewusstsein der Selbstverwaltung für die Masse der Versicherten gar nicht existiert. Eingriffe schwarzblauer Regierungen in die Selbstverwaltung werden nicht als die Enteignung wahrgenommen, die sie sind. Wie viel resilienter wäre da eine plattform-sozialistisch selbstverwaltete Sozialversicherung, die Versicherte und für das Unternehmen Arbeitende vereint.
Alle Teilhabenden auf einer Plattform? Was würde die Selbstverwaltungsplattform etwa einer Sozialversicherung zu einer solchen konstituieren? Welche Funktionen sollte sie haben? Und nicht nur die der Sozialversicherung, sondern auch jede der öffentlich-rechtlichen Rundfunkorganisation, der Unis, des sozialisierten Telekomanbieters, Wasser- oder Stromversorgers, der Wohnbaugenossenschaft oder Gemeindebauten, der ÖBB oder der Wiener Linien.
Vier Säulen fluider Selbstverwaltung
Eine Organisation wie die Uni Wien stellt für alle Teilhabenden bereits seit langem Accounts zur Verfügung. Am E-Mail-Korb hängen weitere Funktionen. Die digitale Infrastruktur wird von der Uni selbst gestellt. Die Geschichte des Internets in Österreich hat hier ihren Ausgang genommen. Über die Jahre und Jahrzehnte kommen Funktionen hinzu, die am eigenen Benutzer_innenkonto hängen. Spielen wir das weiter und nehmen zusätzlich an, dass alle Teilhabenden das unabdingbare Recht auf einen Account und gleichberechtigten Zugang zu allen zentralen Funktionen der Selbstverwaltung haben.
Als Teilhabende seien definiert, alle Arbeitenden, ob in Produktion oder Verwaltung, ob unbefristet angestellt oder temporär als atypisch Beschäftigte, alle Nutzer_innen, Beitragszahlende oder ihren Beitrag via Arbeit für die Organisation Leistende. Vier Säulen seien als zentrale Funktionen der plattformunterstützen Selbstverwaltungen definiert:
Erstens die Säule der Deliberation: Die Möglichkeit, mit anderen Beziehungen zwischen Benutzer_innen-Konten einzugehen, Nachrichten auszutauschen, in Diskussionsforen zusammenzukommen, Arbeitsgruppen zu bilden, Dialog zu führen.
Zweitens die der Kontrolle: Das Berichtswesen wäre entlang der Zeitleiste fluid und nicht auf finanzielle Angelegenheiten beschränkt. Was und in welcher Form, im Sinne von Checks and Balances, zwischen Organisationsteilen und den Teilhabenden an Feedbackschleifen eingerichtet ist, wäre aus der Verfassung abgeleitet, die sich die Organisation selber gibt.
Drittens die Säule, in der strategische Entscheide fallen: ähnlich wie Genossenschaften, Vereine oder AGs von Zeit zu Zeit Grundlegendes in ihren Generalversammlungen zur Abstimmung bringen. Nur dass im Plattform-Sozialismus die Vollversammlung aller Teilhabenden zu jeder Zeit via Plattform über Szenarien abstimmen kann, die zuvor durch die Säulen eins und zwei gegangen sind.
Viertens die Säule personeller Besetzungen: In einzelnen anstehenden Fällen ist dazu nicht die Vollversammlung zu bemühen. Ein jeweils per Zufall über die Plattform bestimmtes Wahlpersonen-Komitee von tausend Personen sollte aus den Kandidat_innen auswählen. Die Zufallsauswahl wird durch Quoten strukturiert, die je nach statutarischer Verfassung der Organisation Geschlecht, Einkommen, Bildungsabschlüsse, Alter, Region, Funktionen in der Organisation usw. betreffen.
Andere digitale Architekturen sind möglich
Eine digitale Plattform dieser Funktionalität mit mehreren Hunderttausend oder Millionen Benutzer_innen-Profilen, wenn wir an die Selbstverwaltung eines ORF oder der Sozialversicherung denken, wäre gleichermaßen revolutionär wie pragmatisch naheliegend. Sie ist nichts eigentlich Besonderes, gemessen an der Realität bestehender Social-Media-Plattformen. Außergewöhnlich wäre der Zweck: Einmal nicht Disruption bestehender Geschäftsmodelle zur Senkung der Produktionskosten und zur Schaffung neuer Monopole, sondern die sozialistische Selbstorganisation von Daseinsvorsorge in vielen großen autonomen Körperschaften und damit mehr Autonomie von Staat und Kapital.
Die digitale Plattform ist die geringere Herausforderung. Die Revolution würde sich in den Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen, der Kultur von Organisationen, in den Herrschaftsverhältnissen abspielen. Die Plattform ist schließlich nur Produktionsmittel. Organisationen würden sich dagegen von Grund auf ändern und auf allen Ebenen. Das erklärt sich freilich im Begriff bereits von selbst. Sozialistische Selbstverwaltung ist für sich genommen revolutionär, ob mit digitaler Plattform oder à la neunzehntes Jahrhundert.
Im Plattform-Sozialismus wäre der Demos, der die Herrschaft über die Organisation von etwas ausübt, über stetige digitale Teilhabe konstituiert, nicht über repräsentative Wahlen alle paar Jahre. Das bedeutet ebenso Hürden wie auch mehr Inklusion. Den digital gap wird es nie nicht geben. Bildung wird immer relevant bleiben. Abgebaut würden dafür andere Ausschlüsse. Wenn alle Sozialversicherung Zahlenden automatisch und gleichberechtigt dem relevanten Demos zugehörten, der über die Selbstverwaltung bestimmt, haben automatisch die staatsbürgerlichen Privilegien, Migrationshintergrund, Vermögen und Einkommen deutliche weniger Einfluss.
Im Binnengefüge der plattform-sozialistisch regierten Körperschaft verschieben sich Prioritäten: Eingeführt, ausgeweitet und aufgewertet werden muss die Moderation der Vielstimmigkeit. Information muss kuratiert, übersetzt und in aufbereiteten Formen dargestellt werden. Die Form der Kommunikation, das Gespräch, muss sich von exkludierend auf inklusiv verändern. Das Arbeitsfeld der Moderation rückt quantitativ und qualitativ ins Zentrum der Körperschaften. Der Zweck der Selbstverwaltung strukturiert die Kommunikation. Obwohl auch sozialistische Plattformen soziale Netzwerk-Funktionen wie Twitter oder Facebook haben, geht es auf ihnen nicht um nichts oder alles, sondern um eine greifbare gemeinsame Sache.
Nach außen bekommt diese gemeinsame Sache das Gewicht, das eine Organisation ausspielen kann, die nicht auf Lobbyismus, Klientelverbindungen und Werbung setzen muss, sondern mehrere hunderttausend Nutzer_innen auf einer autonomen Plattform versammelt. Soll die aktive Teilhabe auf einer Plattform ruhig bei nur drei Prozent liegen. Das wären immer noch sehr viele Aktive. Und es würden schnell mehr, sobald es um die allen eigenen Interessen geht.
Autonome und offene digitale Architektur
Selbst wenn die eigentliche Hürde die menschliche Organisation ist, auch die digitale Architektur wird nicht über Nacht programmiert werden können. Irgendwo muss ein Anfang gemacht werden. Irgendwann sollte Plattform-Sozialismus bedeuten, dass die Grundarchitekturen unserer Plattformen public code sind und dass die Digitalwirtschaft ein völlig neues, bedeutendes Betätigungsfeld gewinnt, in dem es um freie Software vom Server bis zur App, um liquid-feedback-Systeme, um inklusive Architekturen und sorgsamen, sparsamen Einsatz personenbezogener Daten geht.
Sozialistische Selbstverwaltung auf der Höhe des 21. Jahrhunderts kann nur heißen, dass die Teilhabenden die Kontrolle über Daten und Code haben. Die Arbeit von Informatiker_innen und Systemadministrator_innen ist hier so zentral wie die Arbeit der Moderation. Es braucht eine eigene Spezialisierung, eigene Server, eigenen Code. Dafür gibt es Vorläufer. Liquid feedback Software nach dem Konzept von liquid democracy. Dezentrale Social-Media-Architekturen in freier Software. Eine lebendige Tradition der Netzkultur, die gegen Überwachung und Kommodifizierung kämpft.
Die politische Forderung dazu lautet, dass wir die Körperschaften unserer Daseinsvorsorge selber verwalten wollen. Das Recht dazu haben wir.
Hans Christian Voigt ist ein Soziologe aus Wien mit besonderem Interesse an den Bedingungen der Möglichkeit für Dissidenz in sozialen Systemen (und erhöhter Aufmerksamkeit dafür, welche gesellschaftlichen Verschiebungen die digitale Revolution für Lohnabhängige, Arbeitnehmer_inneninteressen und die Organisierung der Arbeiterklasse bedeutet).
Im spanischen Baskenland sitzt mit Mondragón eine der wohl größten ArbeiterInnen kooperativen der Welt. 80.000 Menschen arbeiten für sie.
CHRISTIAN KASERER war für einen Lokalaugenschein vor Ort.
Seit die Arbeit am aktuellen Buchprojekt über selbstverwaltete Betriebe und Projekte begonnen hatte, war klar, der Besuch im Baskenland wird ein ganz besonderer Höhepunkt all dieser Reisen werden. Nicht nur, dass im kleinen Ort Mondragón die gleichnamige ArbeiterInnenkooperative »Mondragón Corporación Cooperativa« ihren Sitz hat – immerhin ein Betrieb mit etwa 80.000 Arbeiterinnen und Arbeitern. Sondern auch, weil der Region im Norden Spaniens in ihrer wunderbaren Natur und historischen Bedeutung ein einzigartiger Charakter innewohnt. Die Basken gelten als ältestes Volk Europas, ihre Geschichte jedoch ist geprägt von Fremdherrschaft und letztlich auch durch Teilung in ein spanisches und ein französisches Baskenland. Letztere haben seit der französischen Revolution keinerlei Selbständigkeit mehr und ihre Sprache ist, wie für alle regionalen Sprachen und Dialekte in Frankreich üblich, keine offiziell anerkannte Amtssprache. Anders verhält es sich in Spanien, wo das Baskenland nicht nur eine ausgedehnte Autonomie genießt, sondern auch das Baskische als offizielle Verkehrssprache gesetzlich zugelassen ist. Hier blühen gerade in den letzten Jahren die baskische Sprache und Kultur geradezu auf und machen die Besonderheiten der Region innerhalb der iberischen Nation besonders deutlich.
Von Bilbao über Gernika nach Mondragón
Entscheidet man sich für eine Anreise in die Region via Flugzeug, so nimmt sich Bilbao wohl als die naheliegendste Destination aus. Die frühere Industriestadt ist ein Fanal für die Folgen der Deindustrialisierung, aber zugleich auch ein positives Beispiel dafür, wie der vermeintlichen Ausweglosigkeit beizukommen sein kann. Nachdem die Industriebetriebe der unmittelbaren Umgebung der Stadt abgewandert waren und an allen Ecken Arbeits- und Obdachlosigkeit grassierte, entschied man sich dafür, das Stadtbild grundlegend zu verändern. Bilbao, auf Baskisch Bilbo, sollte zu einer Kultur- und Tourismusstadt werden, und so zog beispielsweise auch das berühmte Guggenheim-Museum hierhin. Heute ist Bilbao, exemplarisch für das ganze Baskenland, eine wachsende Stadt mit zunehmender Lebensqualität und vielen jungen sowie hochpolitisierten Menschen. Plakate, Sticker und Fahnen für die katalanische Unabhängigkeit beispielsweise findet man an allen Ecken. Bereits in Bilbao finden sich erste Anzeichen, dass Mondragón im Baskenland eine relevante Kraft ist. So ist etwa eine der Mondragón Universitäten, dazu später mehr, in der Stadt beheimatet. Das kleine Mondragón mit etwa 22.000 Einwohnern, baskisch Arrasate genannt, liegt etwas weniger als eine Stunde östlich, und ist man willens, die Fahrt um eine halbe Stunde zu verlängern und auf halbem Wege nördlich abzubiegen, so erreicht man den wohl berühmtesten Schauplatz des spanischen Bürgerkriegs: Gernika. 1937 flogen deutsche Einheiten der Legion Condor für die verbündeten Francisten einen der vernichtendsten Luftangriffe des Bürgerkriegs auf das kleine Städtchen, gemeinhin unter seiner spanischen Schreibweise Guernica bekannt, und zerstörten es zu großen Teilen. Heute erinnert wenig an die Geschehnisse von damals und Gernika ist ein pittoreskes Nest. Mondragón, respektive Arrasate, steht Gernika in seiner beschaulichen und geradezu romantischen Art um nichts nach und wenig würde auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass hier, nicht einmal im in der Talsohle gelegenen Stadtzentrum, sondern am Hang eines der umgebenden Berge, das Hauptquartier einer global agierenden Genossenschaft liegen könnte.
»Sehen wir uns zuerst einen Film an«
Passend zur Umgebung ist auch das Gebäude der Genossenschaft bescheiden gehalten. Zierten nicht Name und Logo der Kooperative ein Schild vor dem Eingang, möchte man glatt glauben, es handle sich hierbei eher um ein kleines Bürogebäude. »Habla usted ingles?«, frage ich den Sicherheitsmann und bereite mich bereits darauf vor, mein schlechtes Spanisch, welches ich die Monate vor der Reise mir anzueignen begonnen hatte, hervorzukramen. »Un poquito.«. Ein bisschen Englisch kann er, welch Glück! Es dauert nicht lange bis uns, meine Lebensgefährtin und mich, Ander Etxeberria, Presseverantwortlicher von Mondragón, freundlich begrüßt: »Bevor wir mit den Fragen beginnen, sehen wir uns doch zuerst einen Film an, ja?« Ein hauseigener Werbefilm, weshalb nicht? Tatsächlich verfügt die Zentrale über ein eigenes Kino und wie Ander erklärt, besuchen jährlich über 2000 Menschen die Genossenschaft. »Einzelpersonen und Gruppen aus allen Teilen der Welt kommen zu uns und fragen, wie wir das hier aufgebaut haben, was unsere Geschichte ist. Leute von StartUps aus Californien ebenso wie Mitglieder europäischer Regierungen«, so Ander, bevor er den Film startet. Die 15 Minuten vergehen überraschend schnell und berichten uns über den Priester Jose Maria Arizmendiarrieta. Er gilt als Gründer von Mondragón. Arizmendiarrieta beschloss 1941, im Angesicht all der Zerstörung, die der spanische Bürgerkrieg im Baskenland hin entschloss er sich, mitsamt fünf Ingenieuren 1956 den Betrieb ULGOR zu gründen. ULGOR unterschied sich deutlich vom klassischen Bild eines Industriebetriebs: Wer hier arbeitete, war zugleich auch BesitzerIn und konnte somit gleichberechtigt mitbeckeln sollte. Ziel war es in erster Linie nicht, Kapital zu akkumulieren, sondern Menschen ein Auskommen zu verschaffen und mit dem Gewinn soziale Projekte zu fördern. Heute, über 60 Jahre später, heißt der kleine Betrieb, der den Menschen hier Hoffnung und eine Zukunft bringen sollte, Mondragón und arbeitet, trotz über 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, immer noch nach denselben Prinzipien, welche terlassen hatte, sich nicht nur für die Seelsorge, sondern auch praktisch zu engagieren. Bildung und Mitbestimmung sollten der Schlüssel dazu sein, die Region wieder aufzubauen und überdies die tiefen Gräben zwischen FrankistInnen und RepublikanerInnen zuzuschütten. Dazu brachte er vor allem Jugendliche zusammen und organisierte Bildung und Freizeit mit ihnen. In Mondragón gab es dazumal lediglich einen großen Betrieb, welchem gar eine Schule angeschlossen war, die allerdings nur den Kindern der ArbeiterInnen offen stand. Der Priester wollte bewirken, dass die Schule allgemein geöffnet und überdies die ArbeiterInnen ein gleichberechtigtes Mitspracherecht im Betrieb bekommen sollten. Letzteres allerdings ohne Erfolg, und so stimmten, wohin der Betrieb sich entwiArizmendiarrieta dazumal aufgestellt hatte.
Wie demokratisch bleiben?
Die Entwicklung freilich ist beeindruckend, aber so eine kurze Präsentation hinterlässt vor allem Fragen, etwa: Wie demokratisch bleiben? »Mondragón ist nicht nur ein Betrieb, sondern sozusagen ein Konglomerat, ein Zusammenschluss aus verschiedensten Firmen. Sie alle halten sich allerdings, das ist die Bedingung, an unsere genossenschaftlichen Grundsätze. Wer bei uns arbeitet, der ist auch EigentümerIn und kann gleichberechtigt über die Abläufe im Betrieb mitbestimmen. Unsere Teilfirmen sind vor allem in der Industrie zu verorten, aber nicht nur. Eine riesige Konsumgenossenschaft, also sozusagen ein Supermarkt, gehört auch dazu. Jene Betriebe, die Teil von Mondragon sind, wählen kollektiv Vertreterinnen und Vertreter für den ganzen Zusammenschluss, und diese kommen daraufhin in regelmäßigen Abständen zusammen und beschließen, wohin wir uns alle entwickeln sollen. Transparenz, Partizipation und das Gemeinwohl stehen dabei immer an oberster Stelle. Den einzelnen Teilbetrieben steht es überdies frei, sofern sie sich demokratisch dazu entscheiden, Mondragon jederzeit zu verlassen und sich anders auszurichten«, so Ander.
Was passiert mit dem Gewinn? »Die Gewinne werden, je nach Beschluss, sozial investiert. Etwa in unsere Universitäten, die wir gegründet haben, damit Menschen – auch ohne mit uns irgendwas zu tun haben zu müssen – studieren können. Oder etwa in Kampagnen für die Umwelt. Es muss jedenfalls der jeweiligen Region, in welcher die Firma lokalisiert ist, zugute kommen. Ein Teil wird natürlich angespart, damit die finanziell erfolgreicheren Betriebe jenen, die aktuell Probleme haben, unter die Arme greifen können. Wir wollen nämlich niemanden bei uns entlassen. Und natürlich ist der Gewinn für die Arbeiterinnen und Arbeiter da.« Das macht hellhörig. »Jede Person zahlt eine gewisse Summe in die Genossenschaft ein. Sozusagen als Anteil. Gerne auch in Raten. Wenn Personen sich dann dazu entschließen, die Genossenschaft zu verlassen oder etwa in Rente gehen, dann erhalten sie ihren Anteil wieder zurück, jedoch deutlich höher, da der Wert des jeweiligen Anteils über die Jahre, entsprechend des Wachstums der Genossenschaft, gestiegen ist. In der Regel kommt da einiges zusammen.«
Ein spannendes Modell das interessant klingt, aber wie behauptet man sich so im Kapitalismus auf Dauer? »Dadurch, dass wir alle gemeinsam beschließen, was die nächsten Schritte sind, bündeln wir unser Wissen. Krisen wie etwa die letzte Finanzkrise haben wir somit deutlich besser überstanden als die meisten anderen Betriebe in unserer Umgebung. Das solidarische Miteinander hilft uns da sehr.« In einer neoliberalen Welt eine leider geradezu anachronistisch anmutende Aussage, die allerdings Hoffnung macht, dass auch andere diesem Beispiel folgen mögen.
Entfremdung in der heutigen Arbeitswelt scheint als analytischer und politischer Begriff scheinbar verschwunden zu sein. Dies hängt zusammen mit Erosionserscheinungen der klassischen industriellen Produktivkraftentwicklung (Produktivkraftentwicklung).
Von MARIO BECKSTEINER
Marx beschrieb in seiner Passage zur Werkzeugmaschine, dass der technische Kern dieser Produktivkraftentwicklung darin bestand, mit Hilfe von Energie einen kontinuierlichen mechanischen Prozess der Kraftnutzung zu organisieren, dem die menschliche Arbeitskraft untergeordnet wurde. Die daraus entstehenden Systeme entfremdeten den Menschen insbesondere auch vom Arbeitsprozess. Wie ich im Folgenden zeigen werde, sollte man den Begriff der Entfremdung aber nicht aufgeben. Mein Argument ist, dass gerade im Kontext digitalisierter und informatisierter Arbeitsumgebungen der Entfremdungsbegriff entlang der neuen Produktivkraftentwicklung theoretisch wiederbelebt werden sollte.
Vorgeschichte
Der Zusammenhang der Entfremdung des Menschen mit der industriellen Produktivkraftentwicklung schien ab den 1990er Jahren unscharf zu werden. Die Unterordnung der ArbeiterInnen unter die Logiken der »großen Industrie« schienen passé und wurden im Produktionsprozess durch Formen der indirekten Steuerung der Arbeitskraft ersetzt. In deren Windschatten entwickelte sich Information in einem neuen Gravitationszentrum der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung, ein Fanal in Hinblick auf heutige Digitalisierungstechniken. Indirekte Steuerung funktioniert über unterschiedliche Mechanismen, u.a. durch handlungsanleitende Informationssysteme. Es entstanden viele Konzepte und »Tools«, die diese Form der Steuerung unterstützten wie zum Beispiel Balanced Scorecards. Ein Strang der BWL, der sich theoretisch und praktisch mit dem Verhalten von Beschäftigten auseinandersetzt (Verhaltensorientiertes Controlling), formuliert das explizite Ziel: Durch strukturierte und strategische Information soll das »Wollen« und »Können« der Beschäftigten verändert werden. Das Rückgrat hierfür sind betriebliche Informationssysteme wie z.B. SAP. Sie waren die ersten, tendenziell noch analogen, betrieblichen Datenkraken. Tatsächlich wurden damit Phänomene der unmittelbaren Entfremdung gegenüber dem Arbeitsprozess zurückgedrängt. Doch eine andere Art der Entfremdung rückte in den Vordergrund, in deren Zentrum Information und die daran gekoppelten Steuerungsprozesse stehen. Die neuen Steuerungssysteme sind darauf angewiesen, dass die Information von den Beschäftigten zumindest hingenommen wird und sie ihre Handlungen daran orientieren. Die Information ist aber geprägt von den Interessen des Unternehmens und der Vorgesetzten und widersprechen oft dem Erfahrungs- und Prozesswissen der Beschäftigten. Damit entstehen unterschiedliche Phänomene. 1. Beschäftigte entfremden sich gegenüber der »offiziellen betrieblichen Realität«. 2. Informationsbasierte Steuerung konstituiert ein Konfliktfeld zwischen Steuerungsansprüchen des Betriebs und den »Realitäten« der Beschäftigten. Derartig gelagerte Steuerung gleicht oft einem permanenten Kleinkrieg um Wahrheits- und Wirklichkeitsdefinition im Betrieb.
Information als neues Gravitationszentrum der Produktivkraftentwicklung hebt das hervor, was Marx als die Entfremdung vom Gattungswesen bezeichnet. Das Gattungswesen ist bei Marx nicht essentialistisch, sondern es ist der »wahre, weil wirkliche Mensch« (MEW 40, S.574). Wahr und wirklich ist der Mensch, da er von sich aus die Befähigung hat, eine Wahrheit über sich und sein Verhältnis zu seiner Umwelt zu konstituieren und darauf aufbauend zu handeln, also SEINE Wirklichkeit zu entfalten. Und genau darauf zielt die Steuerung des Wollens und Könnens. Digitale Technologien unterziehen diese Systeme und die Entfremdungstendenzen nun einem digitalen Doping.
Das Doping
Die neuen Techniken und die daraus resultierenden Anwendungen sind für viele undurchsichtig. Anders als mechanische Prozesse wie sie früher vorherrschend waren, entziehen sich digitale Informationstechniken und ihre Prozesslogik einer direkten Beobachtung. Diese Systeme basieren auf der Datensammlung und einem Prozess, der aus Daten Informationen macht. Daten werden in der heutigen Arbeitsumgebung an unzähligen Punkten gesammelt und es entsteht ein permanenter Strom von Daten. Die Umformung dieser Daten in Informationen kann von Menschen nicht mehr vollzogen werden und schon gar nicht in einem permanenten (real-time) Prozess. Deshalb wird Informations produktion von algorithmischen Prozessen übernommen. Etwas oberflächlich formuliert sind Algorithmen, die aus Big-Data Informationen machen, nichts anderes als (hoch entwickelte) statistische Verfahren. Das, was schon im analogen Zeitalter galt – traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – gilt auch im digitalen Umfeld. Die Auswertung der Daten ist nicht neutral. Die Frage, nach welchen Parametern wann, wo, wie und warum Information produziert wird, ist für betriebliche Machtverhältnisse immer zentraler, denn in die Informationsstruktur schreiben sich die Interessen derer ein, die über die Parameter bestimmen. Während eines Interviews mit einem Digitalisierungsexperten einer Unter nehmensberatung fragte ich, was Algorithmen machen, und die Antwort war überraschend klar. »Die Grundausrichtung unserer Algorithmen kann man mit Marx beschreiben: G – W – G‘. Alles andere ist funktionale Ausdifferenzierung.« Diese Orientierung betrieblicher Informationssysteme ist nicht neu. Neu ist aber, die gewonnene Information erlangt wegen ihres maschinellen Zustandekommens einen Nimbus der Objektivität. Vormals soziale Prozesse der Dateninterpretation werden technisch geschlossen. Die Information als zentraler Moment der Verhaltenssteuerung wird für Beschäftigte damit schwieriger kritisierbar. Nicht selten ziehen sich Vorgesetzte auf den Standpunkt zurück: »Die Zahlen stammen nicht von mir, sie kommen aus dem System!« Zur maschinellen Informationskonstruktion kommt noch eine weitere Komponente hinzu, die Informationsvermittlung oder das Mensch-Maschine Interface.
Entfremdungstendenzen
Digitale Technologien verändern die Prozesse, in denen Informationen in Betrieben weitergegeben werden. Viele soziale Interaktionen wie Meetings, Feedbackschleifen oder oft nur Arbeitsanweisungen werden heute durch technische Informationsvermittlung erledigt. Dabei werden wiederum vormals soziale Prozesse, aber auch Orte der Aushandlung technisch geschlossen. Dem aber nicht genug, denn auch die äußere Form der Information verändert sich. Basis dafür sind App basierte Mensch-Maschine Schnittstellen. Alle AnbieterInnen betrieblicher Informationssysteme werben damit, dass Excel-Tabellen oder schriftliche Anweisungen der Vergangenheit angehören und künftig animierte Grafiken, Piktogramme oder ähnliche Konzepte einen Großteil des Informationsflusses durchdringen werden, auch um den Informationsimpuls aus der Statik der Tabelle o. ä. herauszulösen und besser in die Logik des permanenten Informationsflusses zu integrieren. Dies sind auf den ersten Blick keine großen und durchaus praktisch-funktionale Veränderungen. Doch sie haben gravierende Folgen für das Verhältnis zwischen Informationsimpuls und EmpfängerIn. Informationsvermittlung wird mit einer App-Basierung in den permanenten betrieblichen Informationsfluss eingebaut. Die Zeiten zwischen Informationsimpuls und der einer gewünschten Reaktion auf den Impuls verringern sich. Piktogramme, (animierte) Grafiken oder ähnliches verringern auch die subjektive Distanz zwischen Informationsimpuls und EmpfängerIn, ebenfalls mit dem Ziel, die Steuerungswirkung der Information zu erhöhen.
Zu guter Letzt verändert sich mit der Masse an Daten auch die Struktur der Information, die in den Systemen erzeugt wird. Die Verknüpfung unterschiedlicher Daten ermöglicht Messung des Wirkungsgrades der Tätigkeit von Einzelnen oder von Gruppen im Kontext eines gesamten Produktionsprozesses oder Projektverlaufes. Dieses Ziel wurde auch früher schon verfolgt, doch nie mit so vielen Daten. Ebenfalls zu beobachten ist, dass immer öfter Forecast-Techniken zum Einsatz kommen. So werden für Prozesse, Projekte u.a. digitale Zwillinge geschaffen, die permanent alternative Szenarien für z. B. Projektverläufe erstellen und Risikowarnungen ausgeben oder Optimierungsmöglichkeiten vorschlagen. Die Reichweite der Informationsstruktur und der maschinell erstellten Forecasts übersteigen dabei das, was eine einzelne Person erfassen kann, und damit kommt die Möglichkeit des Widerspruchs weiter unter Druck.
Mit der aktuellen Welle an Digitalisierung kann beobachtet werden, wie sich Entfremdungstendenzen, die sich schon früher in der Informatisierung angekündigt haben, heute ausarten. Damit gerät die Fähigkeit des Gattungswesens Mensch, sich die Umwelt auf mentaler Ebene und daran anschließend auf der Handlungsebene anzueignen und selbstbewusst Wirklichkeit zu konstituieren, unter enormen Druck. Die Folgen dieser Muster der Entfremdung im digitalen Kapitalismus harren bisher noch einer eingehenden Erforschung, auch über den Bereich der Arbeit hinaus.
Mario Becksteiner ist Arbeitssoziologe und promoviert an der Universität Göttingen zu Fragen der Bürokratisierung und Subjektivierung im Betrieb, am Beispiel von Controllingsystemen.
Nach Herzenslust Wikipedia-Artikel verfassen, komponieren, musizieren, Bücher schreiben oder Frei Software entwickeln.
Ein Beitrag von FRANZ SCHÄFER.
»Was sind ihre Hobbys?« wird man oft am Ende eines Vorstellungsgesprächs gefragt. Viele Menschen haben tatsächlich interessante und vor allem auch recht sinnvolle Hobbys. Linux, das Betriebssystem, das heute auf Milliarden von Servern, Smartphones und auch auf immer mehr Desktops läuft, hat auch als Hobby begonnen. Ein Hobby ist allerdings ein Luxus den sich nicht alle leisten können: Wer als Alleinerzieherin mehrere Jobs braucht, um die Wohnung bezahlen zu können, hat wenig Zeit für ein Hobby. Was die Hobbys aber zeigen: Menschen sind mit ihrer Lohnarbeit nicht zufrieden. Die wird meist nur als Mittel zum Zweck wahrgenommen: Damit man Geld hat, um Miete und Essen zu bezahlen. Das Produkt der Arbeit gehört jemand anderem, und selbst der Akt der Produktion wird fremdbestimmt. Marx prägte dafür den Begriff »Entfremdung«.
So genannte »Work-Life Balance«
Verräterisch ist dabei auch die Sprache der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften. Die fordern gerne die so genannte »Work-Life Balance« und meinen damit, dass neben der stressigen Arbeit (»Work«) auch noch Zeit für Familie, Freunde und Hobbys (»Life«) bleiben soll. Das ist ja grundsätzlich eine gute Forderung, aber sie impliziert halt auch, dass »Work« und »Life« zwei verschieden Dinge sind und dass »Work« eben nicht zum »Life« gehört. Die Entfremdung wird hier als gegeben und unveränderlich vorausgesetzt und die Bullshit-Jobs als Status-Quo akzeptiert.
Da sind die Konzerne schon einen Schritt weiter: Google gibt den Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, mit 20 Prozent ihrer Zeit für eigene Projekte zu verwenden (Die Ergebnisse gehören dann aber i.a. immer noch Google – wobei Google durchaus auch relativ viel zu Freien/Open-Source Projekten beiträgt). Die Firmen haben jedenfalls erkannt, dass die Entfremdung durchaus ein Problem darstellt und Kreativität gefragt ist. Die Management Literatur ist voll mit Methoden zur »MitarbeiterInnen-Motivation«.
First World Problems
Angesichts dessen, was der Kapitalismus sonst noch so anstellt (Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, Krieg), erscheint das mit der »Entfremdung« als »Luxus-Problem«. Aber es gibt doch einen Zusammenhang. Die Überproduktion von unnötigen und schädlichen Produkten hängt halt schon auch damit zusammen, dass die Entscheidung über die Produkte von denen getroffen werden, die sie verkaufen wollen und nicht von denen, die sie herstellen. Auf der anderen Seite taucht in der Diskussion über das Grundeinkommen immer wieder die Frage auf: »Wer wird dann noch arbeiten«? Hoffentlich viel weniger Menschen – denn wir haben genug unnötigen Schrott, den keiner braucht – aber gerade Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft bestreiten müssen, können endlich in Freiheit tätig sein. Nach Herzenslust Wikipedia-Artikel verfassen, komponieren, musizieren, Bücher schreiben oder Freie Software entwickeln.
Freie Software wie Linux wird heute zu einem sehr großen Teil in kommerziellen Firmen weiterentwickelt. Der Grund dafür ist, dass selbst große Konzerne es sich kaum mehr leisten können, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Über Freie Software können die großen Firmen de-facto kooperieren, und Kooperation ist nun mal effizienter als Konkurrenz, aber da jede/r den Source-Code besitzt, ist niemand von den anderen abhängig.
Keimform
Aus der Sicht der Programmierer*innen ist das zwar immer noch Lohnarbeit und natürlich immer noch Entfremdung – letztlich gibt der/die Chef*in vor, was und wo entwickelt werden soll, aber zumindest »gehört« einem dann die Software – weil sie auch allen gehört. In der Oekonux Diskussion (die vor etwa zehn Jahren geführt wurde) unterschied man daher zwischen «Einfach Freier Software« und »Doppelt Freier Software«. Erstere war zwar frei, wurde aber von Unternehmen entwickelt, zweitere von freien Einzelpersonen (als »Hobby«). Wobei es eben gerade der Aspekt, dass Freie Software (die das wichtigste Produktionsmittel für die Schaffung neuer Software ist) eben auch von Unternehmen weiterentwickelt wird. Der Kapitalismus arbeitet hier an seiner eigenen Überwindung. Freie Software wird daher auch als »Keimform« bezeichnet – etwas, das im gegenwärtigen System keimt und wächst, aber auch schon die Überwindung dieses Systems in sich trägt. Ich denke, es ist nützlich, sich bei allen unseren Forderungen auch immer zu überlegen, ob diese Keimformqualität haben oder wie sie gestaltet werden könnten, damit sie diese haben. Bedingungsloses Grundeinkommen ist meines Erachtens eines der wichtigsten Keimformprojekte: Es ist initial durchaus mit Kapitalismus kompatibel, trägt aber seine Überwindung schon in sich. Es greift den Kapitalismus an seinem Kern an: dem Kapitalverhältnis – dass die meisten von uns vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, während wir doch nützlich (siehe die erwähnten Hobbys weiter oben) tätig sein könnten.
Monopole
Dass es so einfach wird, dass wir herumsitzen und abwarten, bis die Keimform-Pflanze gewachsen ist und dann den Kapitalismus-Drachen verschlingt, hat damals aber kaum jemand geglaubt. Zehn Jahre nach dieser Diskussion ist Linux und Freie Software zwar deutlich weiterverbreitet. In Smartphones, WLAN-Routern und den allermeisten Servern werkelt ein Linux und viele andere Freie Software. Aber Betriebssysteme und Anwendersoftware sind heute weniger relevant: Die Dienste wandern in die »Cloud«, werden also wie Gmail und andere Dienste einfach Online im Web genutzt. Und auch das ist schon wieder Schnee von gestern: Zunehmend werden die Dienste in Social-Media Plattformen integriert, und da zeichnet sich ab, dass wohl nur eine einzige übrig bleibt: Facebook. Selbst Google ist mit dem Versuch, ihre G+ Plattform zu etablieren, gescheitert. Das Ganze hebt auch die Entfremdung auf ein neues Niveau: Unsere soziale, menschliche Kommunikation wird nun selbst zu Ware. Der Kampf gegen die Monopolstellungen erscheint damit extrem schwierig. Auf der anderen Seite ändern sich die populären Apps heute oft relativ schnell. Die App, die vor zwei Jahren noch die wichtigste war, ist nächstes Jahr vielleicht schon wieder überholt.
Kampf gegen Social-Media Konzerne
Ein einfacher Aufruf, diese Netze nicht mehr zu verwenden, wird wohl nicht reichen. Ein FB-Account ist heute fast notwendig, um mit bestimmten Menschen und Gruppen in Kontakt bleiben zu können. Für uns Aktivist*innen ist die Sache natürlich doppelt schwer: Wenn wir nicht auf FB sind, dann erreichen wir die Menschen nicht. Aber wenn wir dort aktiv sind, dann setzten wir einen zusätzlichen Anreiz für alle anderen, dort auch eingeloggt zu sein. Alle Versuche, freie und dezentrale Alternativen zu Facebook zu etablieren, sind bis jetzt gescheitert. Kaum jemand kennt Diaspora*, Friendica oder Mastodon. Der Grund ist wohl weniger die Qualität dieser Netzwerke, sondern der Netzwerkeffekt: Solange dort keine Menschen aktiv sind, besteht auch für andere keine Motivation, dort einzuloggen. Ganz unmöglich erscheint es aber nicht, die Macht von FB zu brechen: Würde ein freies Social-Media Netzwerk eine gewisse Masse erreichen, wären vielleicht andere Konzerne (denen die Macht des Konkurrenten ein Dorn im Auge ist) bereit, ein freies Netzwerk zu unterstützen – nicht um damit direkt Gewinn zu machen, sondern um die Monopolmacht des Konkurrenten zu verhindern. Die Widersprüche innerhalb der verschiedenen Kapitalfraktionen zu nützen, scheint auch hier eine gute Strategie zu sein. Die großen Internet-Konzerne aus dem sonnigen Kalifornien sind den Rechten in den USA üblicherweise zu links-liberal/libertär. Was, wenn man sich Fox News ansieht, wohl relativ gesehen stimmen mag. Aus der Befragung von Zuckerberg durch die progressive Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) wissen wir, dass Facebook zum »Fact Checking« eine Partnerschaft mit einer Rechtsextremen Medien Organisation namens »Daily Caller« eingegangen ist.
Freie Software-Lizenzen im Zeitalter der Cloud
Die Lizenzen Freier Software legen fest, was man mit der Software machen darf. Die GPL-Lizenz fordert, dass, wer die Software weitergibt, die Rechte nicht einschränken darf. Um zu verhindern, dass Menschen zwar ihre Website damit bauen, dann aber die Software, die hinter der Website verborgen bleibt, nicht weitergeben, wurde die AGPL geschaffen. Die fordert, dass, wer die Software benutzt, muss sie auch zum Download anbieten. Wer die Software verändert und verbessert, muss auch die veränderte und verbesserte Version anbieten. Wenig erstaunlich ist, dass Konzerne wie Google, die davon profitieren, anderer Leute Software für sich zu verwenden, die AGPL hassen wie die Pest.
Digitalisierung
Dank Digitalisierung und der laufenden Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz wird unsere Arbeit bald nicht mehr notwendig sein. Die Notwendigkeit, Zugriff auf Sourcecode, Bauplan, Rezepte und die Eingebauten Algorithmen zu haben, ist wohl in Zukunft weniger eine Frage der Freiheit unserer Arbeit als eine Frage der Kontrolle. Ob diese neuen Technologien uns beherrschen oder ob wir sie kontrollieren. Und diese Kontrolle kann nicht erst entstehen, wenn diese Systeme etabliert sind, sondern muss gemeinsam mit ihnen aufgebaut werden und wachsen. Idealerweise würden wir alle Produzent* innen dazu verpflichten, ihre Baupläne, Sourcecodes, Rezepturen etc. offenzulegen und den Schutz so genannten »Geistigen Eigentums« weitgehend abzuschaffen. Nicht nur würde das die Produktivität enorm erhöhen, sondern auch unnötige Ressourcenverschwendung beseitigen (Dinge müssten nicht doppelt und dreifach erfunden oder entwickelt werden), sondern es würde uns eben auch deutlich mehr Kontrolle über die Technologien erlauben, die uns immer mehr beherrschen. Einfacher wäre natürlich, wenn wir PolitikerInnen hätten, die diese Themen verstehen und die im Kampf gegen »Geistiges Eigentum« und gegen Kapitalismus auf unserer Seite kämpften. In diesem Sinne sehe ich auch Bündnisse von Pirat*innen und Kommunist*innen als sehr wünschenswert an.
Als am 11. Jänner 1986 am Linzer Hauptplatz 40.000 Menschen (und zeitgleich 15.000 in Leoben) für die Erhaltung der Verstaatlichten Industrie und Gemeinwirtschaft demonstrierten, war noch Hoffnung angesagt. Bundeskanzler Fred Sinowatz (SPÖ) versuchte die durch schon lautstark kolportierten Privatisierungspläne aufgebrachte Menge zu beschwichtigen. Tatsächlich war die SPÖ aber bereits im Strudel des Neoliberalismus verfangen.
Von LEO FURTLEHNER
Auf den Punkt brachte die Privatisierungsbilanz der 14 Jahre spätere Rudolf Streicher (SPÖ-Verstaatlichten minister 1986–1992, ÖIAG-Chef 1999– 2001): »Unser Katechismus ist das Aktienrecht« (Arbeit & Wirtschaft, 9/2000). Alfred Gusenbauer (SPÖ-Chef von 2000-2008, Bundeskanzler 2006– 2008) ergänzte treffend mit »Es wird keine Privatisierung rückgängig gemacht« (NZZ, 2002). Und ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch meinte: »Die bisherigen Privatisierungsschritte bei den verstaatlichten Unternehmen haben sich als positiv erwiesen.« (SK, 26.4.2000).
Grünen-Landesrat Rudolf Anschober (OÖ) konstatierte: »In unserem Programm steht, dass Teilprivatisierungen von öffentlichen Unternehmen kein Problem sind.« (Wirtschaftsblatt, 14.6.2007). Schon vor ihm hatte der damalige Grünen-Chef und heutige Bundespräsident Alexander van der Bellen gemeint, »Die Grünen sind nicht grundsätzlich gegen Privatisierungen österreichischer Staatsbetriebe« (APA, 14.3.2000).
Verstaatlichte, das Kernstück
Die Verstaatlichte Industrie war das Kernstück öffentlichen Eigentums, entstanden 1946 aus dem ehemaligen deutschen Eigentum als Konsequenz aus der Befreiung vom Faschismus und der Gründung der 2. Republik und umfasste fast die gesamte Schwerindustrie, den Bergbau, die Elektro- und Chemieindustrie und ab 1955 die Erdöl industrie. Ursprünglich vom Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, später durch das Verkehrsministerium und das Bundeskanzleramt verwaltet, erfolgte aber bereits 1967 die Auslagerung in die ÖIG, aus der dann 1971 die ÖIAG entstand.
Dass im Avis zu Österreichs EG-Beitrittsansuchen von 1989 auch der hohe Staatsanteil als Hindernis festgestellt wurde, schaffte die politische Legitimation für das größte Privatisierungsprogramm der 2. Republik. Die Übernahme neoliberaler Politikmuster unter dem Motto »Mehr privat, weniger Staat« wurde nicht nur von der ÖVP, sondern auch von der SPÖ verinnerlicht, nachdem sich die beiden Parteien ab 1986 zu einer großen Koalition zum EU-konformen Umbau Österreichs zusammenfanden.
Am Prüfstand
Neben der verstaatlichten Industrie stand aber ab 1986 das öffentliche Eigentum insgesamt auf dem Prüfstand. Das betraf sowohl direkt im Staatseigentum stehende Unternehmen wie etwa die Post als auch die Industrieimperien der staatlichen Banken Bank Austria und Creditanstalt, und auch der große öffentliche Sektor der Kommunalwirtschaft kam ins Schussfeld der Privatisierer.
Einen Sonderfall stellt bis heute die Energiewirtschaft dar. Denn einen vollen Ausverkauf dieses lukrativen Energiesektors hat bis heute nur das 1947 auf Initiative des damaligen KPÖ-Energie ministers Karl Altmann beschlossene zweite Verstaatlichungsgesetz verhindert, das eine öffentliche Mehrheit in der Stromwirtschaft verlangt und nur mit Zweidrittel-Mehrheit aufgehoben werden kann. Und da hat sich bislang noch keine Regierung drübergetraut, wenngleich die Privatisierung wie etwa beim Verbund oder mehreren Landesenergiegesellschaften bis an die Grenze des Möglichen ausgereizt wurde.
Diffizile Methoden
Die Methoden der Privatisierung waren oft sehr diffizil. Etwa beginnend mit der Filetierung großer Unternehmen (Voest, Chemie, Post, Steyr-Daimler-Puch) in für private Interessenten lukrative Häppchen. Eine übliche Methode waren Börsengänge zur Kapitalerhöhung, bei welchen der Staat nicht mitzog und damit zwangsläufig seinen Anteil verringerte. Teilweise wurden Staatsunternehmen auch an geneigte Manager via Management-Buy-Out verklopft oder an Günstlinge wie etwa Ex-Finanzminister Androsch (SPÖ) verkauft.
Auslöser der Privatisierungswelle war die Stahlkrise in den 1980er Jahren. Denn bis dahin galt etwa die in den 70er Jahren zu einem Weltkonzern ausgebaute Voest-Alpine als Kernstück der ÖIAG und agierte international wirtschaftlich höchst erfolgreich. Bedingt durch die Neutralität Österreichs wurden vor allem auch mit den realsozialistischen Ländern gute Geschäfte gemacht, was die private westliche Konkurrenz enorm störte.
Die Verstaatlichung in den ersten Nachkriegsjahren war auch massiv der Schwäche des österreichischen Privatkapitals geschuldet, wenngleich es diesem gelang, die Weiterentwicklung der Verstaatlichten von der Grundstoff- zur Finalindustrie zu verhindern und diesen Sektor als preisgünstigen Zulieferer auszunutzen. Davon abgesehen nahm die Privatwirtschaft stets massiven Einfluss auf die Staatsbetriebe, beginnend mit dem unseligen Proporz, welcher SPÖ und ÖVP wichtige Posten im Management sicherte. Darüber hinaus agierten Vasallen des Privatkapitals in Vorstand und Aufsichtsrat der Unternehmen.
Zur Spekulation getrieben
Während westeuropäische Regierungen auch die private Stahlindustrie mit Milliardenspritzen subventionierte, ließ die SPÖ-geführte Regierung in Österreich die Verstaatlichte hängen. Als Ausweg versuchten Handelsfirmen wie Intertrading (Voest) und Merxx (Chemie) mit Spekulationsgeschäften ihr Glück, was letztlich aber in die Hose ging.
Die Verwaltung der Verstaatlichten wandelte sich von der ÖIAG – nach einem Zwischenspiel als Austrian Industries – 2000 zur ÖBIB als Beteiligungsverwaltung und 2019 zur ÖBAG als aktives Beteiligungsmanagement für den kümmerlichen Rest (BIG 100, Post 52,85, Verbund 51, Casinos 33,24, OMV 31,50, Telekom 28,42 Prozent). Als neoliberaler Hardliner stellte Peter Michaelis, ÖIAG-Boss von 2001–2008 aber klar: »Völlig richtig, im Kern ist die ÖIAG eine Privatisierungsagentur und hat sich darin bewährt« und weiter »Ich bin generell der Meinung, dass alles privatisiert werden kann« (trend 7/2011).
Wer hat den Nutzen?
Bleibt die Frage: Cui bono? Die Auswirkungen waren letztlich gravierend, freuen konnten sich durchwegs die neuen Eigentümer und Aktionäre, denen günstig Staatseigentum zugeschanzt wurde, über satte Dividenden. Bei den Jubelmeldungen der Staatsholding über Verkaufserlöse fehlte die Gegenrechnung, was gleichzeitig der öffentlichen Hand verlorengegangen war.
Bis heute sind in einstigen Zentren der Verstaatlichten, etwa in der Steiermark, die Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Regional- und Strukturpolitik spürbar. Ebenso wurde die Mitsprache der Betriebsräte massiv zurückgedrängt und ging die Vorreiterrolle der Staatsbetriebe für soziale Standards verloren. Und letztlich konnte als Ergebnis der Privatisierung auch von einer aktiven Wirtschaftspolitik keine Rede mehr sein. Was freilich der neoliberalen Philosophie entspricht, dass angeblich der Markt ohnehin alles bestens regelt und politische Entscheidungen unerwünscht sind.
Eigentum ist dem homo sapiens menschheitsgeschichtlich fremd. Die aus schließende Zuweisung von Dingen an einzelne Individuen kennen wir buchstäblich erst aus allerjüngster Zeit.
Betrachtungen von ALFRED J. NOLL.
Genetisch mag sich vieles festgelegt haben, das unser heutiges Sozialverhalten bestimmt – das Eigentum gehört nicht dazu. Schauen wir in die Vergangenheit, dann wenden wir meist unsere heutigen Rechtsbegriffe auf frühere Kulturstufen an. Viele wollen dann auch auf der untersten Sprosse das Eigentum »an sich« erhaschen. Aber da ist nichts – nichts, was unserer heutigen Vorstellung von Eigentum ähnelt: Der Menschheit ist dieses Konzept des »privaten Eigentums« so fremd wie den kleinen Kindern die Unterscheidung von »Mein« und »Dein«. Sowohl menschheitsgeschichtlich wie auch individuell-biografisch ist die Vorstellung eines privaten Eigentums das Produkt von (gewaltsamen) Abrichtungs- und Disziplinierungsbemühungen.
Anfang des Eigentums
Das Rechtssubjekt irgendwelcher »Eigentumsrechte« an Grund und Boden ist in der Frühzeit nicht das Individuum (davon hat die Urgesellschaft gar keine Vorstellung), es ist auch nicht die Einzelfamilie, sondern die Horde oder Lokalgruppe in ihrer Gesamtheit. Die Urvölker kennen keine rechtliche Scheidung zwischen Grund und Boden und den darauf wachsenden Pflanzen und jagdbaren Tieren, ja noch nicht einmal unbedingt einen Unterschied zwischen »Person« und Natur. Vor diesem Hintergrund wäre die ausschließende Zuweisung von Sachen an bestimmte »Individuen« völlig absurd.
Allmählich aber kommt es mit beginnender Sesshaftigkeit zu Änderungen: Grund und Boden aber bleiben Eigentum der Dorfgemeinschaft. Über zigtausende Jahre bestehen Gesellschaften mit Menschen, die ohne zentrale Herrschaft, ohne Hierarchie und ohne Ausbeutung zusammenleben können. Das ist eine triviale ethnologische Wahrheit: Gleichheit und Herrschaftslosigkeit scheitern nicht an anthropologischen Erfordernissen – sondern an historischen Bedingungen, denen folgend die Menschheit einen anderen Weg beschritten hat.
Grundherrschaft
Grundherrschaft ist das wesentliche Eigentumsverhältnis im Mittelalter. Der Boden ist das wichtigste Produktionsmittel. Die Form der Grundherrschaft hat unmittelbaren politischen Charakter. Herrschaftsrechte, Regalien, Rechte also, die nach heutiger Sicht typisch staatliche Rechte und Funktionen sind (z. B. die Gerichtsbarkeit), werden vererbt, verpfändet und sind Einkommensquellen. Privates Eigentum und politische Befugnisse werden verbunden. Alle Rechte leiten sich aus dem Eigentumsverhältnis ab. Marx bringt dies auf die einprägsame Formel: »In der Lehnsherrschaft erscheint es geradezu, dass die fürstliche Macht die Macht des Privateigentums ist« (MEW 1, S. 233).
Die Vielfalt der Eigentumsformen und Eigentumsobjekte im Mittelalter, die Zersplitterung des Rechts und das Fehlen eines Juristenstandes, der in der Lage wäre, die Vielfalt des Rechts systematisch zu ordnen und es durch Bildung allgemeiner Begriffe zu vereinheitlichen, lassen eine einheitliche Vorstellung von »Eigentum« im Mittelalter aber nicht zu.
Rezeption des römischen Rechts
Die Rezeption des römischen Rechts ist vor diesem Hintergrund besonders bedeutungsvoll. Den Wirrnissen des germanischen Eigentumsrechts steht plötzlich eine glasklare Konzeption und Begrifflichkeit gegenüber: das Eigentum als privatrechtliche Vollherrschaft, die innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen jede rechtliche und tatsächliche Verfügung über die Sache gestattet, eine Sachherrschaft, die nur auf bestimmten Wegen erworben werden kann; das Eigentumsrecht als absolutes, gegen jedermann und jedefrau durchsetzbares absolutes Recht setzt sich durch.
Durch Praxis und Wissenschaft fortgebildet vermag das römische Recht in einigen Ländern Deutschlands bis 1900 seine Geltung zu behaupten. Erst die in der Nachfolge der Revolution von 1848 stattfindende »Grundentlastung« beseitigt dann allmählich das grundherrliche Obereigentum und die sich daraus ergebenden Leistungsverpflichtungen der Bauern ebenso wie die grundherrliche Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt. In Österreich sieht das kaiserliche Patent vom 4. März 1848 zunächst vor, dass bisher untertänige Bauern gegen Zahlung eines bestimmten Betrages das freie Eigentum an Grund und Boden erwerben können – viele Bauern verschulden sich und es kommt zu neuen Abhängigkeiten, diesmal von den Geldgebern. Erbpacht- und erbzinsrechtliche Verhältnisse werden dann erst im Jahr 1867 beseitigt.
Bürgerliches Eigentumsrecht
Gegen Ende des 19. Jh. verliert das Grundeigentum seinen unveräußerlichen Charakter und wird in den Verkehr hineingerissen und »zu einem ordinären, oft umgeschlagenen Handelsartikel« (Marx). Ab jetzt geht es ums Eigentum in dem Sinne, in dem wir es heute verstehen. »Alles, was jemanden zugehöret, alle seine körperlichen und unkörperlichen Sachen, heißen sein Eigen thum«, heißt es schon im § 353 ABGB aus dem Jahre 1811. § 354 ABGB sagt dann: »Als ein Recht betrachtet, ist Eigenthum das Befugniß, mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkühr zu schalten, und jeden Andern davon auszuschließen«. Damit ist das positive Eigentumsrecht bestimmt.
Alle Objekte des Privateigentums sind juristisch gesehen »Sachen«, d. h. »alles was von der Person verschieden ist« (§ 285 ABGB). Die Sachherrschaftstheorie bringt zum Ausdruck, dass der Eigentümer die Erlaubnis hat, mit »seiner« Sache nach Belieben zu schalten und zu walten. Insofern hat der Privateigentümer also über die Sache ein umfassendes Herrschaftsrecht.
Das Privateigentumsrecht erschöpft sich aber nicht in dem Recht, die Sache »nach Willkühr« zu gebrauchen. Vielmehr ist die Tauschwerteigenschaft des Eigentums von Bedeutung. Um diesen Wert realisieren zu können (also etwa eine Sache verkaufen zu können), muss zuvor sichergestellt sein, dass nur ich allein befugt bin, die Sache zu nutzen; nur dadurch behalte ich im Hinblick auf meine Sachen die allseitige Veräußerungsmöglichkeit – und beziehe daraus auch die Befugnis, das Eigentumsrecht durch Rechtsgeschäft auf andere zu übertragen. Etwas muss erst »ausschließlich« mir gehören, damit ich es einem anderen verkaufen kann.
Aneignungsfunktion des Eigentumsrechts
Noch etwas aber fehlt: Nicht nur der Gebrauchswert (Konsumieren) und der Tauschwert (Eigentumsübertragung), sondern vor allem die ökonomische Funktion der Aneignung, die das Privateigentum ermöglicht, muss begrifflich erfasst werden.
Unentwegt wird am Markt Privateigentum ausgetauscht bzw. verkauft. Was aber verkauft wird, das muss zuvor produziert werden. Für das Recht der kapitalistischen Gesellschaft ist kennzeichnend, dass nicht die Arbeit den Eigentumserwerbsgrund darstellt – sonst müsste ja alles, was produziert wird, den unmittelbaren Produzenten gehören! –, sondern wiederum nur das Privateigentum. § 414 ABGB sagt: »Wer fremde Sachen verarbeitet; wer sie mit den seinigen vereinigt, vermengt, oder vermischt, erhält dadurch noch keinen Anspruch auf das fremde Eigenthum.« Der/die EigentümerfabrikantIn (»UnternehmerIn«) ist also stets auch der EigentümerIn des neuen Produkts: Er oder sie wird durch die Rechtsordnung ermächtigt, in Bezug auf eine neue Sache (Arbeitsprodukt) für sich die Rechtsstellung eines Privateigentümers/-eigentümerin zu begründen.
Zwar wird der/die LohnarbeiterIn vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen; er oder sie ist aber notwendigerweise mit den privaten Produktionsmitteln verbunden, weil er/sie mit diesen produziert und sie im Produktionsprozess produktiv konsumiert. Für den Lohnherrn ist es also wesentlich, die Produktionsmittel und die unmittelbaren ProduzentInnen permanent zusammenzubringen, um sich das Arbeitsprodukt aneignen zu können. Es muss produziert werden. Klammert man dies aus, dann verschwindet aus dem Blickfeld, dass der Ausschluss der großen Mehrheit der Bevölkerung vom Eigentum an Produktionsmitteln die Voraussetzung für Ausbeutung ist: Im Produktionsprozess realisiert sich die Aneignung des Mehrwerts durch den/die EigentümerIn der Produktionsmittel. Und so »schlägt dialektisch das Eigentumsrecht auf Seite des Kapitals in Recht auf fremde Produkte oder in das Eigentumsrecht auf fremde Arbeit um, das Recht, sich fremde Arbeit ohne Äquivalent anzueignen, und auf Seiten des Arbeiters in die Pflicht, sich zu seiner eignen Arbeit und deren Produkt als fremdem Eigentum zu verhalten«, schreibt Marx (MEW 44, S. 364).
Wird das Privateigentum nur als ein Verhältnis zwischen dem/der PrivateigentümerIn und der »Sache« verstanden, also nur als das umfassendste Recht, nach Belieben mit der Sache zu verfahren, kommt die zentrale Bedeutung des Eigentums in unserer Wirtschaftsordnung nicht ins Blickfeld. Durch das private Eigentumsrecht werden eben andere vom Gebrauch des Eigentums ausgeschlossen; es verschafft Herrschaftsbefugnisse über diejenigen, die dem Privateigentümer der Produktionsmittel ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.
Mehrheit eigentumslos
Nun ist es ja nicht unbekannt, dass die Mehrzahl der Menschen zwar formal eigentumsberechtigt ist, tatsächlich aber weitgehend und dauerhaft eigentumslos bleibt. Ist aber das Eigentum ungleich verteilt, dann sind damit auch per se die politischen Einwirkungsmöglichkeiten ungleich verteilt. Aus dieser Überlegung leiten sich alle Vorschläge von Umverteilung ab – bis hin zur alten Forderung nach der »Expropriation der Expropriateure«.
Wenn heute zwei Drittel des privaten Vermögens nur zehn Prozent der Bevölkerung gehören; wenn es für junge Menschen in Ballungsräumen nur noch dann möglich ist, Wohnungseigentum zu erlangen, wenn sie erben oder entsprechende Schenkungen erhalten; und wenn eine angemessene Versorgung und die Deckung des Lebensbedarfs im Alter immer öfter nur noch möglich ist, wenn man auf Erbschaften zurückgreifen kann, dann wird – nur um ein Beispiel zu nennen – zumindest die Besteuerung von Erbschaften zur Herstellung größerer sozialer Gerechtigkeit zum unabdingbaren sozialen Erfordernis. In der Auseinandersetzung um diese Frage könnte dann auch zu Tage treten, was schon Hans Kelsen nüchtern kritisierte: Bei der landläufigen Vorstellung vom »ewigen Privateigentum« handelt es sich um nichts anderes als um Ideologie.
In Hinsicht auf das Eigentums sollten wir also in Erinnerung behalten, was schon Hegel bemerkte: »Eine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechts-Institutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein«.
Beginnen wir mit der Frage, was ist Entfremdung? Entfremdung ist ein Prozess. Das handelnde und denkende Subjekt erzeugt ein Resultat, das ihm als fremd gegenübertritt. Dass es sich dabei um das Resultat des eigenen Tuns handelt, wird nicht erkannt.
Von KARL REITTER
Verständlicher wird diese etwas unanschauliche Erklärung, wenn wir bestimmte konkrete Formen der Entfremdung beachten. Für Marx ist die Religion ein ausgezeichnetes Beispiel, um den Prozess der Entfremdung zu erläutern. So wir nicht an göttliche Offenbarung glauben ist klar, dass die Religion den Vorstellungen und Gedanken der Menschen entspringt. Religiöse Glaubensinhalte werden jedoch – so wir religiös befangen sind – keineswegs als Produkte des menschlichen Geistes und der religiösen Zeremonien erkannt. Kein Religionsgründer sagt, »das habe ich mir ausgedacht«, sondern meint, es wäre die göttliche Eingebung gewesen, die ihm bestimmte Aussagen in den Mund gelegt hätten. Je nach Religion kann dieser Gott dem Menschen freundlich gesinnt sein, aber auch als strafende und verdammende Macht auftreten. Ob wir von Gott Schutz und Hilfe erwarten oder uns vor seinem Zorn fürchten, ist einerlei, in jedem Falle ist Religion eine Form der Entfremdung. Aufgehoben kann die religiöse Entfremdung nur dann werden, wenn wir erkennen, dass Religion unser ureigenes Produkt ist, wenn wir erkennen: Es ist Menschenwerk.
Die kapitalistische Ökonomie ist letztlich nicht zu beherrschen
Marx erkannte, dass die kapitalistische Ökonomie grundsätzlich dieselbe entfremdete Struktur besitzt, wie die Religion. »Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht.« (MEW 23; 649) Marx meint damit, dass die kapitalistische Ökonomie letztlich nicht zu beherrschen ist, dass immer wieder Krisen ausbrechen und wirtschaftlicher Niedergang stattfindet, obwohl dies niemand angestrebt und gewollt hat. Die Betonung liegt dabei auf letztlich. Kapital und Staat können durch ökonomische Entscheidungen und Maßnahmen sehr wohl wirtschaftliche Verhältnisse manipulieren und gestalten. Denken wir etwa an Zölle, Exportsubventionen und wirtschaftliche Sanktionen. Die ökonomische Schule nach John Maynard Keynes (1883–1946) meint, durch aktive staatliche Wirtschaftspolitik ausbrechende Krisen und Erwerbsarbeitslosigkeit mildern zu können. Bis zur Gegenwart ist der Keynesianismus das wirtschaftspolitische Credo der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Wir sollten auch die umgekehrten Strategien nicht vergessen: Politische Repräsentanten des Kapitals erkannten schon längst, dass Krisenphänomene auch sehr nützlich sein können, um ökonomisches und sozialpolitisches Interesse durchzusetzen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) hat diese Orientierung die »schöpferische Zerstörung« genannt. Ein Beispiel dafür ist die Strategie des US-Konzerns Uber. Weltweit soll die alteingesessene Taxibranche zerstört werden, um ihrem neoliberalen Geschäftsmodell den Weg zu ebnen. Konkurse im Taxigewerbe und die Entlassung fix angestellter FahrerInnen werden dabei bewusst in Kauf genommen. Aber diesen Strategien sind klare Grenzen gesetzt, den krisenlosen Kapitalismus hat es nie gegeben und kann es auch nicht geben. Zusammenfassend ist zu sagen: Die ökonomischen Kalküle und Strategien erfolgen grundsätzlich aus der Perspektive und im Interesse des Privateigentums. Solange das Privateigentum dominiert, sind der gesamtgesellschaftlichen Regelung der Ökonomie im Interesse aller sehr enge Grenzen gesetzt. Die ökonomische Realität wird zu einer fremden, uns beherrschenden Macht, die von der bürgerlichen Wirtschaftstheorie ebenso hilflos protokolliert wird wie es die Meteorologie beim Wetter tut. Es geschieht eben.
Lohnarbeit ist entfremdete Arbeit
Bei Lohnarbeit ist der Zusammenhang zwischen Entfremdung und Eigentum unmittelbar gegeben. In einer frühen Schrift formuliert Marx diesen Zusammenhang in einer sehr philosophischen Sprache. »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.« (MEW 40; 511) Marx meint damit folgendes: Das Arbeitsprodukt, die Ware, gehört nicht den Arbeitenden, sondern den KapitalistInnen. Durch Verkauf der Ware wird das Kapital geschaffen und vermehrt. Die von Marx angesprochene unabhängige Macht ist das Kapital, sei es in Form der Waren, die gekauft werden müssen, oder sei es in Form der Produktionsmittel, die sich im Besitz der KapitaleignerInnen und nicht im Besitz der werktätigen Massen befinden. Wäre das Arbeitsprodukt Gemeinbesitz der gesamten Gesellschaft, gäbe es kein Privateigentum an Produktionsmitteln, aber auch keine entfremdete Lohnarbeit. Es ist die entfremdete Arbeit, die den gesamtgesellschaftlich produzierten Reichtum als Privatbesitz produziert. Die entfremdete Arbeit ist die Ursache, das Kapital ist die Wirkung, nicht umgekehrt! Das können wir bei Marx klipp und klar lesen: »Arbeitslohn ist eine unmittelbare Folge der entfremdeten Arbeit, und die entfremdete Arbeit ist die unmittelbare Ursache des Privateigentums.« (MEW 40; 521) In seinem Hauptwerk, dem Kapital, formuliert Marx diesen Zusammenhang in ökonomischen Begriffen: »Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.« (MEW 23; 596) In diesem Zitat ist der Prozesscharakter der Entfremdung sehr klar ersichtlich. Der lebendige Arbeitsprozess erzeugt beständig sein feindliches Gegenüber, das Kapital. Je mehr Lohnarbeit geleistet wird, desto größer und mächtiger wird der ökonomische, soziale und politische Einfluss der herrschenden Klassen. Für Marx ist klar: Die entfremdete Arbeit, sprich die Lohnarbeit, ist der Kern der kapitalistischen Produktionsweise. Eine Überwindung des Kapitalismus muss mit der Überwindung der Lohnarbeit Hand und Hand gehen. Nicht eine bessere, gerechtere Verteilung ist der Schlüssel, auch eine weitgehende Verstaatlichung kann den Kapitalismus nicht aushebeln. Friedrich Engels scheibt zu diesem Thema: Je »mehr Produktivkräfte er [der Staat K. R.] in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier.« (MEW 20; 260)
Wir sehen also, dass es sich beim Thema entfremdete Arbeit keineswegs um eine hoch philosophische Angelegenheit mit wenig realer Bedeutung handelt, im Gegenteil. Ob ich Entfremdung erkenne und verstehe oder nicht, ist für das Verständnis sozialer und ökonomischer Konflikte sehr bedeutsam. Werfen wir einen Blick auf das Kontrastprogramm: Die übliche, sozialdemokratische, gewerkschaftliche Orientierung will von entfremdeter Arbeit nichts wissen. Nicht die Überwindung der Lohnarbeit wird als Ziel proklamiert, sondern Jobs, Jobs Jobs lautet die Devise. Da der Prozess der Entfremdung nicht beachtet wird, beruht auch der von ihnen laut proklamierte Kampf um die Verteilung des erzeugten Reichtums auf völlig falschen Voraussetzungen. Die entfremdete Arbeit lässt verstehen, warum das gesamte Kapital nichts anderes ist als akkumulierte, nicht bezahlte Arbeitszeit. Einfach gesagt, der Wert des Kapitals wurde zu 100 % von den Werktätigen selbst geschaffen. Woher auch immer das erste, ursprüngliche Kapital stammen mag, jedes zusätzliche, größere Kapital »enthält nicht ein einziges Wertatom, das nicht aus unbezahlter fremder Arbeit herstammt«. (MEW 23; 608) Wird der Prozess der entfremdeten Arbeit jedoch ignoriert, so muss es so aussehen, als ob der erzeugte Wert das Resultat des Zusammenspiels zweier an sich völlig unabhängiger Faktoren wäre; dem Kapital einerseits und der lebendigen Arbeit andererseits. Daher erscheint es auch gerecht, dass auch der/die KapitaleignerIn seinen Anteil am Kuchen bekommt. Zu diesen beiden scheinbar »unabhängigen« Faktoren Arbeit und Kapital kann sich noch der Grundbesitz gesellen und fertig ist die Dreifaltigkeit Arbeit, Boden, Kapital. Aber ebenso wie die Religion das Werk von Menschen ist, ist der gesellschaftliche Reichtum in Form des Privateigentums das Werk der entfremdeten Lohnarbeit.
(Die Texte von Marx und Engels werden hier nach den Marx-Engels-Werken, kurz MEW, zitiert. Diese sind leicht im Internet zu finden.)
Nachdem das Europaparlament mit nur 66 Gegenstimmen eine geschichtsfälschende Resolution verabschiedete, haben LUCIANA CASTELLINA (Il Manifesto) und WALTER BAIER (transform!europe) einen Appell gestartet, den über 100 Intellektuelle unterzeichnet haben. Sie appellieren an Europa, sich korrekt an seine Geschichte zu erinnern.
Das Europäische Parlament hat unter dem Titel »Die Bedeutung des europäischen Gedenkens für die Zukunft Europas« am 19. September mit einer großen Mehrheit eine Resolution angenommen, die ein politisches und kulturelles Zeichen setzt und daher entschieden abgelehnt werden muss.
Erstens ist es nicht die Aufgabe einer institutionellen oder politischen Organisation, mittels Mehrheitsentscheidung eine bestimmte Lesart der Geschichte festzuschreiben. Die Instrumentalisierung durch das Dekretieren einer revisionistischen Interpretation der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts kann nicht die Methode einer ehrlichen Demokratie sein. Wenn die bisherige Interpretation dieser Ereignisse überarbeitet werden soll, so kann dies nur nach wissenschaftlicher Forschung und einer breiten Debatte in der Gesellschaft geschehen.
Zweitens enthält die Resolution inakzeptable Fehler, einseitige Sichtweisen und Verzerrungen. So die Behauptung, es sei der Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939 gewesen, der den Weg zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geebnet habe. Diese Behauptung klammert aus, dass es die liberalen westlichen Demokratien waren, die durch ihr Verhalten die Nazi-Expansion erlaubten, so bei der Invasion Äthiopiens (1935), dem Spanischen Bürgerkrieg, in dem Deutschland und Italien den rechtsradikalen Staatsstreich des General Franco unterstützten (1936), dem »Anschluss« Österreichs (1938) und der Politik des Appeasement in München, die die Zerstörung und Zerstückelung der Tschechoslowakei, nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch Polen und Ungarn zur Folge hatte.
Darüber hinaus wird in der Resolution der enorme Anteil der Sowjetunion (mit mehr als 20 Millionen Toten) am Sieg über den Nationalsozialismus, der für das Schicksal Europas und der Menschheit maßgeblich war, verschwiegen, ebenso wie der Beitrag derjenigen Menschen, die für die Ideale und unter den Symbolen der unterschiedlichen Strömungen der internationalen kommunistischen Bewegung Hitler und seine Helfer_innen in Europa und überall auf der Welt bekämpft haben. Die Resolution »vergisst« Altiero Spinelli, italienischer kommunistischer und politischer Gefangener zwischen 1927 und 1943, Mitautor des Manifests von Ventotene, der als einer der Gründerväter der europäischen Integration als Namensgeber eines Gebäudes des Europäischen Parlaments geehrt wird.
Die Resolution bringt zustande, Auschwitz zu nennen, ohne zu erwähnen, dass es die Sowjetarmee war, die es befreite und die zur Vernichtung bestimmten Häftlinge rettete.
Bewusst unterschlagen wird, dass in vielen Ländern, Italien, Frankreich, Jugoslawien, Griechenland und anderen, die Kommunist_ innen die Hauptkomponente des Widerstandes gegen Nationalsozialismus und Faschismus bildeten und einen wesentlichen Beitrag zur Wiedergeburt der Demokratien ihrer Länder leisteten, womit die politischen, gewerkschaftlichen, kulturellen und religiösen Freiheiten wiederhergestellt wurden.
Diese Tatsachen in Erinnerung zu bringen, bedeutet nicht, die schändlichen Aspekte des Stalinismus, die Fehler und Schrecken, die in seinem Namen verübt wurden, zu ignorieren oder zu verschweigen. Doch es bleibt ein fundamentaler Unterschied bestehen: Der Nationalsozialismus verwirklichte durch seine schonungslose Diktatur, die jegliche Freiheit, Demokratie, ja Mitmenschlichkeit außer Kraft setzte und die Ausrottung religiöser, ethnischer und sexueller Minderheiten plante, seine offen deklarierten Ziele, während die kommunistischen Regierungen, die sich schwerwiegender und annehmbarer Verletzungen der Freiheit und der Demokratie schuldig machten, damit ihre eigenen Ideale, Werte und Versprechungen verrieten. Das wirft ernste Fragen auf, die weitere Untersuchung und Überlegung erfordern – aber angesichts des Beitrags, den die Aktivist_innen und die UdSSR zum Sieg über den Faschismus geleistet haben, ist die Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus, die Hauptaussage der Resolution, genauso unzulässig wie es, angesichts der Vielfalt seiner unterschiedlichen Strömungen, unzulässig ist, den Kommunismus mit dem Stalinismus zu identifizieren.
Solche Verfälschungen und Auslassungen können niemals Grundlage für ein »gemeinsames Gedächtnis«, noch weniger einen gemeinsamen Lehrplan für die Geschichte in Schulen bilden, wie der Antrag empfiehlt. Sie können auch nicht die Plattform für einen europäischen Gedenktag für die Opfer totalitärer Regime abgeben. Noch weniger dürfen sie die Rechtfertigung für die Entfernung von Denkmälern und Erinnerungsstätten (Parks, Plätzen, Straßen etc.) im Namen des Kampfes gegen einen unbestimmten Totalitarismus sein, der in der Realität einen Vorwand abgibt, die eindeutigen Lehren der Geschichte auszuradieren und die Erinnerung an diejenigen auszu löschen, die sich für den Sieg über den Faschismus aufopferten.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Resolution des Europaparlaments im Bemühen, ihre Stoßrichtung auszugleichen, einige unvermeidliche Gesten setzt, wie, dass sie sich für einen Kampf gegen das Wiederaufleben des Faschismus, des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und anderer Formen der Intoleranz ausspricht. Aber dieser notwendige Aufruf zum Kampf gegen Faschismus und Rassismus kann nicht von einer Verdrehung und Verfälschung der Geschichte ausgehen und einbekannter Weise darauf zielen, die Wurzel einer fundamentalen Kraft des Antifaschismus, die Kommunist_innen, abzutrennen. Die Völker Europas dürfen das nicht zulassen.
Mehr Informationen und die Liste der Unterzeichnenden: www.transform-network.net